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Privates Netzwerk Medizingeschädigter

Zwei Männer und ihr Auftrag vom Schicksal

Elmar Kordes und Manfred Maier kämpfen für Opfer von Behandlungsfehlern



Freies Wort Thüringen
Dienstag, 09. Januar 2007


VON REDAKTIONSMITGLIED ULLY GÜNTHER

Dies ist die Geschichte zweier Männer, denen das Leben tonnenschwere Last auf die Seele geladen hat. Vor ein paar Jahren trafen sie sich. Es sieht aus, als hätte ihnen das Schicksal einen gemeinsamen Auftrag erteilt. Sie kämpfen - für die Opfer der Medizin.

Elmar Kordes sitzt in Oberhof in seinem Wohnzimmer. Er erinnert sich genau. Januar 2001 war das damals, als der Andere sich meldete. "Jetzt bin ich mal gespannt, ob du auch so ein Arschloch bist, das nur Geld verdienen will", schnauzte der andere am Telefon.

"Wie kommst Du mir denn daher", konterte Kordes. "Es war", sagt er, schmeckt der Vergangenheit nach, während er genüsslich einen Zug aus dem kubanischen Zigarillo nimmt, "von Anfang an eine sehr herzliche Angelegenheit zwischen uns. Seitdem telefonieren wir mehrmals jeden Tag."

Elmar Kordes war ein Verwundeter. Draußen auf dem Friedhof lag damals das noch frische Grab seiner Frau Anja, gestorben am 10. Oktober 2000. Auf den Grabstein hatte er grade die Inschrift meißeln lassen: "Dieser Arzt kann uns nicht trennen, wir sehen uns wieder."

"Du weißt, was du zu tun hast"

Gemeint war der ehemalige Chef der Suhler Frauenklinik, dem Kordes bis heute vorwirft, einen Behandlungsfehler begangen zu haben, der seine Frau - 36 Jahre alt war Anja Kordes damals - letztlich das Leben gekostet habe. Drei Jahre dauerte ihr Martyrium. Die Haftpflichtversicherung des Arztes hat gezahlt, vor Gericht wurde der Prozess gegen den Gynäkologen eingestellt. Auf ihrem Sterbebett sagte Anja zu ihrem Mann: "Ich liebe dich. Du weißt, was du zu tun hast." Diese Worte schickten den heute 47-jährigen Oberhofer auf seine Mission. Sein Ziel: Den Opfern medizinischer Behandlungsfehler zu helfen. "Man ist so alleine gelassen in dieser Situation." - Und muss antreten gegen einen riesigen, undurchschaubaren Apparat. David gegen Goliath heißt die klassische Konstellation, wenn Medizinopfer antreten, um Gerechtigkeit einzufordern.

Nach dem Tod seiner Frau startete Elmar Kordes seine Internetseite www.behandlungsfehler-arztpfusch.de. Bald darauf meldete sich der Andere. "Jetzt bin ich mal gespannt, ob du auch so ein Arschloch bist...", sagte er. Vier Stunden redeten sie miteinander bei diesem ersten Telefonat, bis kurz nach Mitternacht. Danach kannte Elmar Kordes die Geschichte des Jungen, der Geoffrey hieß. Der Junge war ein Sonntagskind, geboren am 28. Juni 1998 in einem Krankenhaus am Bodensee. Als Geoffrey um 12 Uhr und drei Minuten aus dem Bauch seiner Mutter kam, war er schneeweiß, hatte die Nabelschnur dreimal um den Hals gewickelt und musste reanimiert werden. Dann lebte er: als mehrfach schwerst behindertes Kind. Im Nachhinein stellte sich heraus: Wehenschreiber defekt, Saugglocke defekt, falsche Behandlung durch den Arzt, der Wehenmittel statt Wehenhemmer verabreichte, die Blutgasuntersuchung, die den Sauerstoffgehalt im Blut des Kindes misst, einfach vergessen. Der Junge hätte gesund zur Welt kommen können. In Geoffreys Fall war das Versagen der Medizin so eindeutig, dass die Versicherung des Arztes schon zahlte, ohne dass auch nur ein Gutachten vorlag. So ist das nachzulesen auf der Internetseite des Anderen (www.geburtsschaden.de).

Mit Geoffreys Geburt begann dessen Mission. Irgendwann fanden sie sich dann. Elmar Kordes aus Oberhof und der Andere: Manfred Maier - Campingplatzbetreiber am Bodensee - Geoffreys Vater.

"Bis du auch so ein A...", fragte Maier als erstes. Er hatte nach der Geburt seines Sohnes die Erfahrung gemacht, dass es "keinerlei Informationen" gab, wo man Hilfe erhalten kann bei der Betreuung des schwerstbehinderten Kindes. "Es gab nichts", sagt Maier. Und auf der rechtlichen Schiene sei er reihenweise abgezockt worden für Ratschläge, die keinen Cent wert gewesen seien. Er und seine Frau Claire hätten "völlig im Regen gestanden". Bis auf einen Rat, den sie noch im Krankenhaus von einem Arzt erhalten hätten: "Lassen sie erst gar keine emotionale Beziehung zu dem Kind aufkommen. Lassen sie ihm eine Magensonde legen, geben sie es ins Heim - und dann machen sie ein neues."

An jenem Abend, als sie telefonierten, beschlossen Elmar Kordes und Manfred Maier, ihr Wissen zusammenzulegen und ihre Internetseiten. Sie gründeten das Private Netzwerk Medizingeschädigter (www.geoffrey-mike.de), sie entwickelten eine kostenlose Beratungsbroschüre, sie ließen andere Betroffene ihre Fälle schildern. Je mehr sie sich in die Materie einarbeiteten, desto mehr fanden sie das, was Manfred Maier "einen unvorstellbaren Sumpf" nennt.

"Beispiel", sagt Kordes: Thüringen hat bislang ein Gesetz, das es nicht erlaube, Ärzte berufsrechtlich zu verfolgen, wenn diese nach einem Behandlungsfehler einfach schnell das Bundesland wechseln. Kordes hat interveniert. Nun soll das Gesetz geändert werden - angeblich.

58 000 Tote durch Medikamentierung?

"Beispiel", sagt Kordes: Eine schwangere Frau. Sie hatte das seltsame Gefühl, etwas sei nicht in Ordnung. Sie bat ihren Frauenarzt um zusätzliche Ultraschall-Untersuchungen, 11 Stück waren es, die sie aus eigener Tasche bezahlte. Das Kind kam zur Welt mit Klumpfüßen, ohne After, "mit allen Defekten, die man sich nur vorstellen kann." Man hätte das beim Ultraschall durchaus erkennen müssen, sagt Kordes, aber es gebe mehrere Ultraschall-Qualifikationsstufen für Ärzte von Degum I bis Degum III. Der Arzt der Frau hatte nur Degum I. Deswegen trage er keine Schuld, urteilte das Gericht: Bei diesem Qualifikationsstand hätte er nicht zwangsläufig die Defekte des Kindes erkennen müssen. "Welche Patientin weiß denn etwas von Degum I bis Degum III", fragt Kordes. "Ein Skandal", zürnt Maier, "darüber hätte doch der Arzt von Anfang an die schwangere Frau aufklären müssen, die sich auf ihn verließ." Das Gericht habe geurteilt, die Patientin sei verpflichtet, sich über die Qualifikation des Arztes kundig zu machen.

Einzelfälle, bedauerliche Schicksale? Manfred Maier und seiner Frau Claire hat man das auch stets erzählt, aber es gab diese Erlebnisse, wo man anfängt, sich Fragen zu stellen. Als sie zum Beispiel mit 70 anderen Eltern und deren behinderten Kindern in einer vollen Chartermaschine saßen, auf dem Weg zu einem Professor in der Ukraine. Es gibt auch diese eindrucksvollen Zahlen wie sie beispielsweise im Jahr 2003 Jürgen Fröhlich veröffentlichte, der Leiter des Institutes für klinische Pharmakologie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Ergebnis seiner repräsentativen Studie: 58 000 Tote pro Jahr "durch unerwünschte Medikamentenwirkungen" nur in Deutschlands internistischen Abteilungen. Bei der Hälfte der Fälle handle es sich um Fehler bei der Verabreichung, vor allem um falsche Dosierung. 58 000 Medizinopfer - wie Geoffrey.

Entgegen des ärztlichen Rates trennten sich Manfred Maier und seine Frau Claire nicht "emotional" von ihrem Sohn. Stattdessen nahmen sie ihn mit nach Hause. Über Monate schrie er 24 Stunden am Tag, er hatte spastische Krämpfe, wahnsinnige Schmerzen. Bis zu seinem achten Lebensjahr konnte er nicht sprechen, nicht laufen, nicht sitzen, nicht selbst essen. Claire fütterte ihn - oft Stunden. Aber lachen, das konnte Geoffrey. Sprechen konnte er auch; er sprach eben mit seinen riesigen braunen Augen. "Ein Charmeur", sagt sein Papa Manfred Maier am Telefon, reihenweise seien die Frauen schwach geworden, wenn Geoffrey sie angeblickt habe. Der Bub liebte es, auf dem Schoß seines Vaters Traktor zu fahren. Er liebte den Anblick von Werkzeug und lachte vor Begeisterung, jedes Mal wenn Kettensägen irgendwo aufheulten. "Ein richtiger Junge", sagt sein Papa, der heute glaubt, dass solche Leidenschaften schon in den männlichen Genen verankert sein müssen. Durch Geoffrey geriet Maier in eine andere Welt: In dieser Welt kollidierte das Lachen seines Kindes mit Pflegediensten, die kamen, anschließend falsch abrechneten und obwohl sie sich selbst - als sie erwischt wurden - schriftlich des Abrechnungsbetruges bezichtigten, doch nie verfolgt worden seien von der Krankenkasse oder der Staatsanwaltschaft. Er geriet in eine Welt, in der Anwälte die Streitwerte bei Medizinschadensfällen von vornherein so hoch ansetzen, dass nachher öfter "nichts mehr übrig bleibt für die Betroffenen, weil die Anwaltskosten am Streitwert berechnet werden, nicht an dem, was die Versicherung am Ende zahlt". Er beschloss, die Menschen zu informieren über diese Welt, in der man schnell untergehen kann als unkundiges Opfer, wahrscheinlich nennt er sie deswegen meist "Sumpf".

Seit Weihnachten findet sich auf Manfred Maiers Internetseite www.geburtsschaden.de die Todesanzeige für ein Kind, geboren am 28. Juni 1998, gestorben am 21. Dezember 2006. Acht Jahre wohnte Geoffrey zu Hause. Acht Jahre brauchte er 24 Stunden Betreuung am Tag. Acht Jahre schlief er nur mit Körperkontakt und in der Nacht hatte er Krämpfe. Manchmal stahlen sie sich davon, wenn er ruhig war, um wenigstens zwei, drei Stunden wirklich Schlaf zu finden. Jeden Tag neue Hilferufe Dann lag ihr Junge tot im Bett, an jenem grausamen Morgen des 21. Dezember. Manfred Maier glaubt, dass er einen spastischen Krampf hatte, sich dabei verhedderte und erstickt ist.

Er macht sich jetzt Vorwürfe. "Unsere Aufmerksamkeit hat nachgelassen in letzter Zeit." - Nach acht Jahren, in denen sie keine Nacht mehr durchschliefen, haben sie nicht gemerkt, als Geoffrey ging. Deswegen telefonieren die beiden Männer in letzter Zeit wieder länger. "Wir machen weiter", hat Manfred Maier gesagt. Kordes sitzt ohnehin jeden Tag Stunden am Computer. Das Leben hat ihnen einen Auftrag erteilt. 400 000 Besucher bislang auf ihren Internetseiten; jeden Tag kommen Mails von Leuten, die um Hilfe rufen.

PS: Am Dienstagnachmittag wird Geoffreys Urne beigesetzt.

Kostenloser Rat

Manfred Maier und Elmar Kordes sitzen inzwischen im Vorstand des Arbeitskreises Medizingeschädigter. Dieser 450 Mitglieder starke Verein mit Büro in Isny bietet Medizingeschädigten jeden letzten Donnerstag im Monat rechtliche Erstberatung durch Anwälte an. Die Beratung ist kostenfrei - auch für Nichtmitglieder.
Internetadresse: www.akmg.de

Telefon: 07562 / 39 95 und 07562 / 98 14 37







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